Leitfaden IHK Digital Transformation Map: Crossfunktionale Zellstruktur-Teams
Cross-funktionale Teams fördern dynamische Organisationseinheiten, in deren Mittelpunkt der Mensch steht. Ein Leitfaden mit Anwendungserläuterungen und einer Checkliste zur Einführung unterstützt Unternehmen, die agile Arbeitsmethoden für digitale Geschäftsstrategien nutzen wollen. Der Erfolg dieser Methode hängt jedoch vom Mindset ab und ist nicht universell einsetzbar.
- Ausgangslage: Umgang mit Dynamik
- Einsatzmöglichkeiten: Unternehmen dynamikrobust gestalten
- Fallbeispiel: Produktentwicklung innerhalb eines crossfunktionalen Teams
- Aufgepasst! Funktionsübergreifende Teams brauchen kein Management
- Erste Schritte
- Do’s and Don’ts
- Zu guter Letzt: Wie Zellstruktur-Teams Nutzen stiften
- Veranstaltungshinweise, weitere Informationen
In Zukunft wird es nicht mehr in erster Linie darum gehen, Bestehendes einfach in die digitale Welt zu übertragen. Das Informatikersprichwort "Gold in, Gold out" reicht nicht mehr aus. Wichtiger sind demnach die Antworten auf folgende Fragestellungen:
- Welche neue Dienstleistung oder welches Produkt können wir anbieten?
- Was können wir anders machen?
- Wie können wir das System unserer Prozesse und Strukturen transformieren und flexibilisieren, um mehr Wertschöpfung zu erzielen?
- Wie erreichen und erhalten wir dauerhafte Wandlungsfähigkeit?
Ein Ziel sollte sein, Organisationen und deren Arbeitsgestaltung zur Zielerreichung dynamikrobust zu gestalten.
Das heißt, Strukturen zu schaffen, die Zukunft ermöglichen, indem sie scheinbare Gegensätze verbinden und versöhnen. Diese interne Umstrukturierung hat gleichzeitig starke Auswirkungen auf die Unternehmenskultur und die Menschen. In diesem Playbook geht es daher um die Themen, wie ein Umfeld gestaltet werden kann, um selbstorganisierte und eigenverantwortliche Teams aufzubauen und zu unterstützen und welche Mitarbeiterprofile es in einem Unternehmen gibt und wie diese sinnvoll ergänzt werden können.
Ausgangslage: Umgang mit Dynamik
Die zunehmende Digitalisierung in Unternehmen bringt zwangsläufig Dynamik und Veränderung in die Organisation. Dr. Gerhard Wohland, Gründer des Instituts für dynamikrobuste Höchstleistung, spricht von der “neuen Dynamik” und zeigt auf, dass es dafür keine stabilen, sondern dynamikrobuste Organisationen braucht. Denn Stabilität im Sinne von Rigidität und Unbeweglichkeit ist in einem sich stark verändernden Umfeld problematisch, da solche Systeme bei inkonsistenter / unvorhersehbarer Belastung zusammenbrechen.
Dynamikrobuste Organisationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie lebendig, anpassungsfähig und in der Lage sind, mit Unvorhergesehenem umzugehen, weil die Menschen stärker mitdenken und autonomer handeln.
“Wir müssen lernen, anders zu denken, zu fühlen, zu handeln und zu verstehen. Radikal. Anders.” Dr. Wohland, Gründer des Instituts für dynamikrobuste Höchstleistung
Wohland beschreibt diese unterschiedlichen Organisationsformen als rote und blaue Welt. Die rote Welt zeichnet sich durch eine stärkere Menschenorientierung aus, die blaue Welt ist prozessorientiert. Überall dort, wo Geistesgegenwart, Kommunikation und Können vor Struktur und Prozess gefragt sind, sprechen wir von der roten Welt. Wo es um Vereinfachung (Konzepte, Narrative) und Standards geht, bewegen wir uns in einer blauen Welt.
© F. Wohland
Das deutsche Unternehmertum und seine Geschichte der letzten 150 Jahre ist stärker von der blauen Welt geprägt, was auch das Thema Führung bzw. Management betrifft.
Die Taylorwanne symbolisiert die Einführung des Taylorismus - die Trennung von Denken und Handeln - in die Unternehmenslandschaft und das ‘Wechselbad’ zwischen lebendigen Organisationsstrukturen und ‘toten’/mechanischen Prozessen in den letzten 150 Jahren.
Was es heute braucht, ist ein Überdenken der Standardisierung als oberstes Prinzip und das Erkennen und Aktivieren der Potenziale von Individuen und (sozialen) Interaktionen.
Bisher orientieren sich viele Unternehmenskulturen noch am Taylorismus, benannt nach dem Amerikaner Frederick W. Taylor, der mit seinem Werk “ThePrinciples of Scientific Management” 1911 die Grundidee lieferte, den Manager als Rolle im Unternehmen einzuführen und die Standardisierung zu erhöhen. Entscheidend war, dass er ein neues Prinzip einführte: die Trennung von Denken und Handeln.
Ein Teil des Unternehmens denkt (das Management) und ein Teil des Unternehmens führt aus (die Mitarbeiter). Damit gilt er als Begründer des Managements und legte den Grundstein für viele Führungsmodelle, die bis heute praktiziert werden. Taylor wurde schon früh von Kapitalismusgegnern für seinen Ansatz - die Trennung von denkenden und handelnden Rollen im Unternehmen - als menschenfern oder gar menschenfeindlich kritisiert. Eine gewisse Zeit der Industrialisierung schien seiner Theorie jedoch Recht zu geben, dass dadurch die Produktivität und Stabilität des Unternehmens gesteigert werden konnte.
Dieser Ansatz stößt jedoch an seine Grenzen in der Welt, wie wir sie heute vorfinden, die auch als VUKA-Welt bezeichnet wird, ein Akronym für Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität.
Das bedeutet: Situationen und Organisationen sind flüchtiger als früher, verändern schneller ihre Form oder Funktion; es herrscht mehr Ungewissheit und Unsicherheit, weil sich aus den Erfahrungen der Vergangenheit die Entwicklung und Gestaltung der Zukunft nicht mehr so eindeutig vorhersagen lässt wie noch vor 50 Jahren; Systeme und Probleme werden immer komplexer und für den Einzelnen immer schwerer zu durchschauen; es entsteht eine Ambiguität, die ganz neue Anforderungen an Organisationen stellt. Oft gibt es kein ‘richtig’ und ‘falsch’ mehr, sondern viele Optionen und Zwischentöne.
© Gordon Geisler
Die Natur macht es vor: Komplexe und dynamikrobuste Strukturen sind keine graue Theorie, sondern existieren und gedeihen. Das heißt aber nicht, dass unüberschaubare Komplexität ein neues Phänomen ist. Aus der Biologie wissen wir schon lange, dass und wie hochkomplexe Systeme funktionieren - man denke zum Beispiel an einen Ameisenstaat. Ein wichtiger Erfolgsfaktor dieser Systeme ist, dass alle beteiligten Wesen extrem schnell miteinander kommunizieren und gemeinsam handeln.
Wenn es also eine erhöhte Dynamik in unserer Gesellschaft und Wirtschaft gibt - Märkte, Organisationen und Makroumwelten verändern sich - dann wäre es gut, wenn sich auch Organisationen entsprechend weiterentwickeln und umstrukturieren, um mit dieser Geschwindigkeit und Veränderung gut umgehen und sie sogar für sich nutzen zu können. Daher sind rote Ansätze vielversprechender als blaue, um den Herausforderungen der digitalen Transformation zu begegnen.
Komplexität vs. Kompliziertheit
Blaue Aspekte innerhalb einer Organisationsstruktur haben durchaus ihre Berechtigung, nämlich dann, wenn es sich um komplizierte Vorgänge handelt. Problematisch wird es, wenn auch komplexe Probleme als komplizierte Probleme missverstanden werden. Doch was genau ist der Unterschied zwischen beiden?
Komplizierte Sachverhalte zeichnen sich durch eine feste Ursache-Wirkungs-Kette aus und können mit Wissen/Logik und maschineller Unterstützung bzw. allein durch Maschinen, unabhängig von Menschen, gelöst werden. Man denke hier an komplizierte Produkt- und Lieferketten, die - einmal gelöst - nach einem klaren Schema ablaufen können. So entstehen Prozesse, Richtlinien und Regeln innerhalb einer Organisation. Werden diese nicht eingehalten und treten Fehler auf, kann dies im Chaos enden. Das ganze komplizierte Gebilde kann teilweise versagen oder ganz zusammenbrechen.
Komplexe Sachverhalte und Probleme erfordern rote Herangehensweisen. Diese können nur von Menschen übernommen werden. Der Umgang mit Komplexität erfordert weniger ‘Wissen’ als ‘Können’. Hier braucht es kurze Wege des Austausches zwischen den verschiedenen Menschen und Freiräume, um Wege auszuprobieren und kreative Ansätze zu finden, um Können aufzubauen.
Komplizierte Prozesse können immer durch Technik übernommen werden - z.B. durch einen Computer, der viele Rechenaufgaben in kürzester Zeit durchlaufen und lösen kann. Er kann aber nur Lösungen anbieten, die er kennt.
https://tinyurl.com/27ajmmj5
© Klaus Haasis 08/2018
Komplizierte Vorgänge können teilweise oder ganz von der Technik übernommen werden. Komplexe Sachverhalte erfordern immer die Kreativität und das Zusammenwirken von Menschen.
Unterscheidung zwischen Chaos und Dynamik
Dynamik ist immer etwas, das sich selbst sortiert. Es ist nicht chaotisch, weil es nicht mehr funktioniert. Immer dann, wenn wir Prozesse, Methoden, klare Abläufe verwenden, an die wir uns starr halten - oder wenn wir uns auf Daten beziehen, einen Plan verfolgen, ein Ziel anstreben, dann sind wir in einer blauen Welt, die eher tot ist - und die Chaos beseitigen oder erzeugen kann. Denn sie ordnet.
In der roten Welt gehen wir weniger davon aus, dass der Einzelne oder die eigene Organisation die Lösung kennen muss, sondern dass wir uns Expertise von außen holen können. Das macht sie viel durchlässiger. Es geht weniger um die Frage “Was weiß ich”, sondern um die Generierung von Ideen: Funktioniert es oder wer (intern oder extern) kann uns helfen, eine Lösung zu finden? Es geht weniger um Herrschaftswissen, sondern darum, wie man mit dem, was da ist, einen neuen Weg gehen kann. Es ist also prozessoffen.
Während in der blauen Welt die Frage nach dem "Wie" im Vordergrund steht ("Wie ist der Prozess?", "Wie ist die Vorgehensweise?", "Wie haben es andere gemacht?"), ist in der roten Welt die Hauptfrage: Wer kann etwas tun? Wen können wir fragen? Wer könnte helfen? Es gibt hier also eine stärkere Personenorientierung und nicht den einen, definierten Weg.
Unterscheidung zwischen Chaos und Dynamik nach F. Wohland
© F. Wohland
Die Herausforderung besteht nun darin, dass bei der digitalen Transformation mehr auf die Prozesse und weniger auf die Menschen geachtet und Einfluss genommen wird. Das ist auch der Grund, warum viele neue Prozesseinführungen schwierig sind oder scheitern, weil sie oft unabhängig von den Menschen eingeführt werden.
Einsatzmöglichkeiten: Unternehmen dynamikrobust gestalten
Um die digitale Transformation als komplexes und dynamisches Phänomen in einem Unternehmen bestmöglich zu fördern, bedarf es der Einführung ‘roter’ Strukturen. Dies beginnt bei der Strukturierung von Mitarbeitenden und Teams und der Schaffung neuer Räume und Möglichkeiten der Zusammenarbeit.
Das Auflösen von Komponententeams zugunsten crossfunktionaler Teams
In einem überwiegend blau strukturierten Unternehmen ist die Organisation in der Regel in Abteilungen gegliedert, die meist nach Themen, Prozessschritten oder Fachkompetenzen aufgeteilt sind. Man spricht hier auch von “Komponententeams”. Dies macht Sinn bei Massenproduktion und hoch standardisierten Abläufen und in einem trägen Markt. Vorteil ist die vermeintliche Übersichtlichkeit durch die Sortierung der Mitarbeitenden nach gleichen oder ähnlichen Aufgaben. Nachteilig ist, dass der Koordinationsaufwand sehr hoch und schwierig ist, verbunden mit Schnittstellenverlusten in der Kommunikation. Projekte haben daher in der Regel lange (träge) Durchlaufzeiten.
Crossfunktionale Teams hingegen vereinen unterschiedliche Mitarbeiterprofile und Kompetenzen und können im kleinen Rahmen alle notwendigen Funktionen innerhalb einer Organisation abdecken. Sie können autark agieren. Der Vorteil liegt hier in der schnellen Lösung unvorhersehbarer Herausforderungen, kürzeren Kommunikationswegen, weniger Schnittstellenverlusten in der Kommunikation und schnelleren Durchlaufzeiten von Projekten.
Ein neuer Blick auf Mitarbeiterprofile
Typischerweise bilden sich in einer Komponentenorganisation Teams von Spezialisten mit einem ‘schmalen’ Wissensspektrum, das aber in die Tiefe geht. Je größer Organisationen sind und je ‘blauer’ sie organisiert sind, desto eher werden Spezialisten beschäftigt. Dabei wird davon ausgegangen, dass viele Spezialisten aus unterschiedlichen Fachbereichen logischerweise zu einem Kompetenzzuwachs für das gesamte Unternehmen führen.
In der Realität zeigt sich jedoch, dass diese Rechnung meist nicht aufgeht, da die Spezialisten wie Säulen oder Silos nebeneinander stehen und die Kommunikation zwischen ihnen bzw. den Abteilungen schwierig ist. Daher sind große Unternehmen meist auch träger - nicht weil sie per se größer sind und viele verschiedene Prozesse haben, sondern weil die Kommunikation zwischen den Silo-Abteilungen schwerfällig und wenig flexibel ist. Um den Austausch zu ermöglichen, werden Personen (z.T. mit Generalistenprofil (breites Wissensspektrum, eher oberflächlich) in Form von Projektleitern und Führungskräften eingesetzt, die diese abteilungsübergreifende Kommunikation übernehmen sollen. Aber auch dies ändert nichts an den langen Durchlaufzeiten von Projektabläufen oder Produktentwicklungen.
In ‘blauen Organisationen werden in der Regel Mitarbeitende mit einem Generalisten- oder Spezialistenprofil eingestellt. Um die Entwicklung hin zu ‘roten’ Strukturen zu ermöglichen, bieten sich sogenannte T-Profile an, die Generalisten- und Spezialistenkompetenzen in sich vereinen.
© Kallenbach
Beste Voraussetzung für eine funktionsübergreifende Organisation: Teamzusammensetzung mit T-Mitarbeitenden.
Fallbeispiel: Produktentwicklung innerhalb eines crossfunktionalen Teams
In klassisch organisierten Teams wird ein Produkt nacheinander von verschiedenen Teams bearbeitet. Sie folgen also einem linearen Prozess (Wasserfallmodell), der festgelegt ist.
So bearbeitet z.B. das Designteam zunächst nur die Aufgabe F1, gibt diese dann an das nächste Team - z.B. die Programmierung - weiter, dann an ein drittes Team usw.. Erst wenn die Aufgabe F1 abgeschlossen ist, wird der nächste Schritt in Angriff genommen. Und wenn das erste Team länger für eine Aufgabe braucht, verschiebt sich die Bearbeitung in den anderen Teams entsprechend - entweder schieben sie hier andere Projekte ein oder warten tatsächlich, bis das andere Team die Aufgabe übergibt.
Es handelt sich also um eine stark sequentielle Bearbeitung einer Aufgabe. Kommen dann noch Rückmeldungen oder Reklamationen an Team 1 von Teams, die sich am Ende dieses Prozesses befinden, muss die gesamte Kette erneut durchlaufen werden - was gleichzeitig die Bearbeitung der nachfolgenden Aufgaben lähmt. Die Ergebnisse werden am Ende des Projekts oder der Projektphase geliefert und bewertet. Ein Projektleiter steuert und verantwortet das gesamte Projekt. Die Kommunikation findet in langen Meetings und über Dokumente statt.
Bei crossfunktionalen Teams arbeitet ein Team in kurzen Iterationen und überprüft diese kurzfristiger bzw. im laufenden Prozess. D.h. bereits in der ersten Iteration ist aus jedem Bereich (Design, Programmierung etc.) eine Person beteiligt, so dass mögliche Probleme gemeinsam und zeitnah besprochen werden können.
Anforderungen werden kontinuierlich erfasst und Ergebnisse können regelmäßig geliefert und evaluiert werden. Einem solchen Team steht kein Manager vor, sondern das Team übernimmt gemeinsam die Steuerung und Verantwortung.
© Agilecoach
Zur Abbildung: Projekte in der Warteschlange? Iterative Produktentwicklung in cross-funktionalen Teams ermöglicht kürzere Projektphasen und schnellere Problemlösung im Prozess.
Um die digitale Transformation im eigenen Unternehmen bestmöglich und ergebnisorientiert umzusetzen, bietet eine crossfunktional arbeitende Organisation ideale Rahmenbedingungen - denn alle sitzen an einem Tisch und diskutieren und begleiten die Transformation gemeinsam.
Aufgepasst! Funktionsübergreifende Teams brauchen kein Management
Es muss betont werden, dass funktionsübergreifende Teams und dynamische Organisationsstrukturen einer hierarchischen Managementstruktur diametral entgegenstehen. Wie bereits erwähnt, ist der Grundgedanke des Managements die Trennung von Denken und Handeln. Die Organisationsmethodik des Managements soll der Effizienz dienen. Dieses tayloristische Management wird von Nils Pflaeging bzw. dem Betacodex-Netzwerk als “Alpha”-Modus bezeichnet, während dynamikrobuste Organisationsstrukturen als “Beta”-Modus bezeichnet werden.
Die drei Lücken im Management
Pfläging sieht drei Probleme einer Managementstruktur, die der Organisation schaden.
Die soziale Lücke
Die hierarchische Aufteilung und Kontrolle des Managements über die Abteilungen blendet soziale Prozesse aus. An die Stelle von Vertrauen, Lernen und Interaktion tritt häufig ein Management über Kennzahlen und Angst. Dadurch bleibt vorhandenes Sozialkapital nicht nur ungenutzt, sondern wird als problematisch wahrgenommen.
Die funktionale Lücke
Die Trennung von Funktionen führt zu Zuständigkeiten und zur Reduzierung von Verantwortung. Prozesskontrolle, Planung, Regeln und Standards dominieren. Dies kostet nicht nur Zeit und reduziert die Eigenverantwortung und das Mitdenken der Mitarbeitenden, sondern führt auch zu Frustration gegenüber der Organisation.
Die zeitliche Lücke
Die personelle Trennung von Planung und Ausführung macht fremdbestimmte Rollen, Strategie, Ziele, Prognosen und Planungen notwendig. Auch hier werden Zeit und Kompetenzen des Personals verschwendet bzw. nicht genutzt.
Betrachtet man, wo die Wertschöpfung in einer Organisation stattfindet, zeigt sich, dass alle drei Lücken der Wertschöpfung entgegenwirken. Sie nützen weder Kund:innen, noch Mitarbeitenden, noch Eigentümer. Sie verschwenden Zeit, Geld, Motivation und andere Ressourcen und vermitteln lediglich die Illusion von Beherrschbarkeit und Sicherheit.
Weniger Experten, mehr Gemeinschaft
Die Optimierung bestehender Prozesse oder Management-Innovationen sind lediglich Arbeiten am System (“mehr vom Gleichen”). D.h. eine Organisation, die sich die Lösung durch IT-Expert:innen erhofft, erkennt bereits das Grundthema nicht bzw. schafft sich selbst ein Problem. Eine digitale Transformation, die gelingen soll, braucht die Beteiligung aller und ermöglicht nur “Systemarbeit” - organisiert als sozialer Prozess. Natürlich kann Expertise ins Haus geholt werden, aber diese hat nur eine ‘Hebammenfunktion’ - Berater und IT-Experten lösen also nicht das Problem, sondern helfen dem Team, die passende Lösung für sich zu erarbeiten.
© Pfläging
Es ist wichtig zu wissen, dass die Technologie, die in den letzten Jahren entwickelt wurde, eine solche systemische Arbeit erst ermöglicht. Digitalisierungsprojekte, die diesen Aspekt nicht berücksichtigen, sind rückwärtsgewandt und reaktionär.
Erste Schritte
Ein erster Schritt, um Hierarchien und Managementstrukturen aufzulösen und Raum für selbstorganisierte, funktionsübergreifende Teams zu schaffen, beginnt mit der Frage an die Führungskraft(en), was sie anderen - und zwar allen anderen - zutrauen. Denn ohne Vertrauen in die Fähigkeiten und Kompetenzen der Mitarbeitenden ist eine solche paradigmatische Umstrukturierung nicht umsetzbar.
Die meisten Menschen halten sich selbst für kreativ, intrinsisch motiviert und verantwortungsbewusst, während sie andere eher für demotiviert, nur durch Geld motiviert und verantwortungslos oder ängstlich halten. Wenn sich aber die meisten in der Theorie X wiederfinden, kann es dann sein, dass sich die Theorie Y als untaugliches Weltbild erweist?
Die Frage, die sich zu Beginn stellt, lautet: Wie schätzen Sie die Einstellung Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein? Können Sie sich vorstellen, dass sich alle in der Theorie X wiederfinden? Allein dieses Umdenken kann Ihnen ein neues Verständnis für Ihre Mitarbeitenden geben und öffnet die Tür für strukturelle Veränderungen. Wenn wir nicht nur uns selbst, sondern allen etwas zutrauen, dann ist der nächste praktische Schritt denkbar, Aufgaben nicht denen zu übertragen, die es aufgrund ihrer Position “dürfen” (oder theoretisch wissen), sondern denen, die es wirklich können (und wollen).
Auf diese Weise kann sich das eigene Unternehmen zu einer ‚Könner‘-Organisation entwickeln; Können als die Fähigkeit, neue und bisher unbekannte Probleme zu lösen. Können entsteht nicht durch Wissen allein, sondern braucht Praxis und Übung. Dazu gehört auch das Scheitern und das erneute Ausprobieren. Dieser Aspekt wird aber in vielen Unternehmen noch nicht zugelassen oder sanktioniert.
Ein weiterer Schritt, um das eigene Unternehmen zu einer dynamischen, agilen Organisation mit funktionsübergreifenden Teams zu entwickeln, kann der Einsatz des „Betacodex“ sein, um mutig einen ersten Schritt in Richtung Selbstorganisation zu gehen.
„Betakodex“: 12 Prinzipien von Beta-Organisationen
Prinzip
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Beta
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Alpha
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1 – Handlungsfreiheit
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Sinnkopplung
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statt Abhängigkeit
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2 – Verantwortung
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Zellen
|
statt Abteilungen
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3 – Leadership
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Führung
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statt Management
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4 – Leistungsklima
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Ergebniskultur
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statt Pflichterfüllung
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5 – Erfolg
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Passgenauigkeit
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statt Maximierungswahn
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6 – Transparenz
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Intelligenzfluss
|
statt Machtstau
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7 – Orientierung
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Relative Ziele
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statt Vorgabe
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8 – Anerkennung
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Teilhabe
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statt Anreizung
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9 – Geistesgegenwart
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Vorbereitung
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statt Planung
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10 – Entscheidung
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Konsequenz
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statt Bürokratie
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11 – Ressourceneinsatz
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Zweckdienlichkeit
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statt Statusgehabe
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12 – Koordination
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Marktdynamik
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statt Anweisung
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Do’s and Don’ts
1. Teamgröße beachten
Eine crossfunktional agierende Organisation bzw. crossfunktionale Teams innerhalb eines Unternehmens sollten eine Größe von 8-12 Personen nicht überschreiten. Um die Kommunikation größerer Gruppen bzw. der Teams untereinander zu gewährleisten, bieten sich andere/weitere Formate an:
- Open-Space-Format, bei dem in ein bis drei Tagen gemeinsam ein Produkt entwickelt wird - dies ist auch mit 300 Personen möglich.
- Organisation eines BarCamps zum Austausch
- Gilde-Treffen, bei denen sich Experten zu einem bestimmten Thema treffen und sich gezielt austauschen.
2. kein Management
Wie bereits in Kapitel 6 erwähnt, macht es wenig Sinn, der eigenen Organisation den Anstrich einer agilen Organisation zu geben, indem man Abteilungen in crossfunktionale Teams umstrukturiert, diesen dann aber die Selbstorganisation verweigert, indem man weiterhin eine Managementstruktur aufrechterhält.
3. Neue Führungsansätze sind gefragt
Selbstorganisation macht Führung zwar obsolet, erfordert aber eine effektive neue Führung für eine gute Fehlerkultur. Diese neue Führung ist lateral - auf Augenhöhe - und drückt sich in einem respektvollen Umgang mit allen Mitarbeitenden gleichermaßen aus. Die Führung sichert das Commitment des Teams durch Sinnvermittlung.
Sie klärt also "Warum und wozu tun wir etwas? Da sich alle Menschen gerne weiterentwickeln, können Fortbildungen als Motivationsmittel eingesetzt werden, statt ‚toter‘ Anreize wie Geld und Mitarbeiterparkplätze.
Auch hier gilt: Weiterbildung wird nicht angeordnet, sondern zum Anlass genommen, mit den Mitarbeitenden darüber ins Gespräch zu kommen, wie sie sich weiterentwickeln wollen und wo ihre Interessen liegen. Und nicht zuletzt fördert die neue Führung das Miteinander. Statt Menschen in Abteilungssilos zu trennen, fördert sie die Zusammenarbeit in funktionsübergreifenden Teams und Räumen.
Ansätze der neuen Führung sind:
- Führen mit Gehirn(-boten)stoffen - d.h. worauf reagiert der einzelne Mitarbeiter physiologisch am besten? (z.B. Motivationspotenzialanalyse oder SCARF-Modell (Status, Certatinty, Autonomy, Relatedness, Fairness))
- Führen durch Zuhören statt Zeigen und Ausüben ungleicher Machtstrukturen
- Führen durch positive Verstärkung und positive Psychologie (vgl. Buch “Whale done”) statt defizitorientiertes Top-to-Bottom-Management.
- Oder verkürzt: Führen heißt (be)wirken.
Zu guter Letzt: Wie Zellstruktur-Teams Nutzen stiften
Raus aus dem Silo, rein in die Zusammenarbeit – mit Zellstruktur-Teams
Zellenteams sind eine soziale Technologie, bei der Unternehmen in Zellen (Teams) unterteilt werden. Diese funktionieren selbstorganisiert nach den Prinzipien von Kooperation, Kompetenz und Unterstützung. Hemmende Mechanismen wie traditionelle Machtstrukturen oder das Zurückhalten von Wissen haben in dieser Organisationsform keinen Platz. Das Können steht vor dem Wissen und die Frage “Was muss wirklich getan werden? Und wer kann es tun?” statt „Wie wollen wir es tun?“.
Das bedeutet auch, dass nicht alle Zellenmitglieder von Anfang an alles können müssen, sondern im Team unterstützt werden, ihre Fähigkeiten zu verbessern und auszubauen. Dadurch gibt es in einem Unternehmen weniger “Besserwisser” oder Abteilungen, die Pflichten und Aufgaben von sich schieben oder festhalten, nur weil es in ihren Aufgabenbereich fällt oder nicht - sondern mehr eigenverantwortliche, befähigte Könner.
Auf dieser Basis entstehen dynamisch agile Organisationen, die für die Unwägbarkeiten und komplexen Aufgaben, die die digitale Transformation mit sich bringt, gewappnet sind. Denn um neue Geschäftsmodelle zu entwickeln und neue Geschäftsfelder zu erschließen, braucht es Können (Lernen und Üben), Machen (Ausprobieren), Zusammenarbeit sowie gegenseitige Unterstützung, direkte Kommunikation und den Austausch darüber, was es braucht, um Innovationen umzusetzen.
Aktionsplan
- Wie ist das Verhältnis von ‚roten‘ und ‚blauen‘ Strukturen in Ihrer Organisation?
- Liste der ‚blauen‘ Anteile (Prozesse, Tools, Organisationsstruktur).
- Liste der ‚roten‘ Anteile (Projekte, Strategien, Interaktionsräume).
- Überprüfung der Theorie X/Y in der eigenen Organisation
- Wie beurteile ich meine eigene Haltung? (Theorie X oder Y)
- Wie schätze ich die Einstellung meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein?
- Brauche ich vertrauensbildende Massnahmen?
- Welche der 12 Prinzipien des ‚Beta Code‘ werden in meiner Organisation bereits praktiziert?
- Was braucht es, um alle 12 Prinzipien umzusetzen?
- Welche Ansätze der Neuen Führung werden in meiner Organisation bereits umgesetzt?
- Welcher Ansatz der Neuen Führung sollte als nächstes eingeführt werden?
- Wie sind die Teams bisher zusammengesetzt? Welche Komponenten gibt es?
- Welche Profile und Kompetenzen haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? (Generalisten, Spezialisten, T-Profile)
- für eine cross-funktionale Teamgestaltung: welche Funktionen müssen in jedem Team vorhanden sein?
- Welche Räume können geschaffen werden, um kurze Kommunikationswege und soziale Interaktion zu fördern?
- Wie könnte eine erste Veranstaltung für alle Mitarbeitenden aussehen, um die cross-funktionale Teambildung zu diskutieren (Pilot starten)? (Barcamp, OpenSpace-Format...)
Veranstaltungshinweise, weitere Informationen
Monatlich werden nach und nach und in Wiederholungen die einzelnen Methoden der IHK Digital Transformation Map in kostenfreien Online-Impulsen vorgestellt.
Unter Online Impulse IHK Digtial Transformation Map finden Sie alle Termine und die Anmeldemöglichkeiten.
Viele weitere Online-Impulse mit dem Augenmerk auf digitale Themen finden sich unter de Veranstaltungsübersicht impulsnetzwerk.ihk.de.
Hinweis zum generischen Maskulinum unter Einsatzfelder der IHK Digital Transformation Map.
Quellenangaben
- Blanchard, Ken et.al.: Whale done! - Von Walen lernen: So motivieren Sie jedes Team zu Spitzenleistungen. Goldmann 2005.
- Pfläging, Nils: Organisation für Komplexität. Wie Arbeit wieder lebendig wird – und Höchstleistung entsteht. Redline, München 2014.
- Sinek, Simon: Frag immer erst: warum: Wie Top-Firmen und Führungskräfte zum Erfolg inspirieren, Redline, München 2014.
- Taylor, F. Wohland.: The principles of scientific management. Cosimo, New York 2006, (Nachdruck der Ausgabe Harper & Brothers, London 1911).
- VUKA-Welt: https://www.vuca-welt.de
- Wohland, Gerhard: https://dynamikrobust.com, Stand: 16.März 2023.
(Autor: Gordon Geisler, Co-Autor und Herausgeber: Emmanuel Beule, Stand 25.3.2024)